Rolf Arthur Leemann
Antonio Chos neuer Gedichtband: Grosser Empfang
Leiden
Sie an Arachnophobie? Um Himmels willen, lesen Sie Antonio Chos* neues
Poesiebuch nicht! Zwar sind einige von uns wohl in irgendwelche Netze
verstrickt, oder als Spinner, Spinnerinnen eigener Netze tätig und möchten uns
losschütteln. Für Leute, die das gemerkt haben oder merken wollen, empfiehlt
sich das Buch vielleicht doch. Es ist ein spielerischer Versuch, nicht in
Alltagsfallen und hochphilosophischen Fäden hängenzubleiben. Dazu braucht es
allerdings eine jugendliche Energie (wissen Sie noch? – da war die Welt noch
offen!), eine Art fröhlichen Starrsinns, der freie Bahnen sucht und erkennt. Und
vor gedanklichen Sprengsätzen nicht zurückscheut. Der Umschlag ist blutrot, und
an jedem Ende eines Gedichtes findet sich eine kleine Bombe. Na ja, und das
titelgebende Gedicht ist eine Art Horrormovie. Leider nicht unaktuell. Von
Anarcho-Mystik ist die Rede (ohne Bindestrich), von Eigensinn und Meinsein, von
Schein und Scheit(erhaufen). Lassen sie sich nicht abschrecken durch meine eher
albernen Worte. Ich persönlich bin noch am Lernen. Was gelernt werden muss, ist
das Lesen, der Umgang mit den Rätseln des Lesens, und mit ein paar sehr offenen
und grossen Fragen. Zum Beispiel: wem gehorche ich, wenn ich lese? Sie finden
eine Menge rebellischer Anspielungen in diesem dünnen Buch und werden auf einige
wunderbare an Kafka oder Calvino erinnernde Formulierungen stossen; auf eines
der schönsten Mondgedichte wie einen biografischen Kommentar zu Descartes. Und
unterwegs vielleicht eine Ahnung davon bekommen, was Wirlosigkeit heisst, was
Ichlosigkeit heisst; welchen Gewinn und Verlust der Abstand von doch immer
besetzter Heimat bringt. Also kein leichtes Buch? Lesen Sie es oft, diskutieren
Sie es mit Freunden. Entdecken sie Frische und Wachheit auch im gelegentlich
auftretenden grammatikalischen Eigensinn, oder in knapp vermiedener Anlehnung an
ein Programm. Das Buch ist Ermunterung. Verzichten Sie auf den zweiten Blick:
nehmen Sie den ersten ernst, der sich nie wiederholen kann. Tanzen Sie wie die
Typographie über die Seiten. Oder fliegen Sie mit Antonio Cho wie die Vögel
durch die Poesiegeschichte, über chinesisches und antikes Gelände.
Satzzeichenlos. Und bleiben Sie erstaunt stehen, verlieben sie sich, umsonst −
wie in diesem letzten Gedicht:
Marienkäfer
Kitzel
auf erschauernder Haut.
Unschuld. Ein Verweilen
das beglückt. Mitten in der Angst der Fragen
ohne Antwort. Trüge er
meine Welt der Lügen unter
den Deckflügeln müsste
deren Farbe mich warnen
die schwarzen Punkte
im gleissenden Rot.
Zu spät –
schon habe ich mich verliebt
wird unter dem Chitin
Wahrheit. Jäh öffnet er
die roten Schilde. Nein!
Flieg nicht weg!
Umsonst.
Antonio
Cho ist Autor der Internetseite „Skepsis und Leidenschaft“ und
Herausgeber der Internetanthologie „lyrik.ch“